Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies

  Paradies oder Hölle?

Es ist fast die Regel, dass ich beim Namen des neuen Nobelpreisträgers oder der Nobelpreisträgerin für Literatur ahnungslos mit den Schultern zucke, so auch 2021 bei Abdulrazak Gurnah. Allerdings weckte die für alle unerwartete Wahl dieses Mal sofort mein Interesse, waren doch die Stimmen einhellig positiv, der Prämierte in den ersten Interviews sehr sympathisch und sowohl die Thematik seiner Werke als auch die Region, in der sie angesiedelt sind, klangen sehr verheißungsvoll. Ich freute mich daher sehr, dass der Penguin Verlag pünktlich zur Preisverleihung im Dezember 2021 Gurnahs 1994 für den Booker Prize nominierten Roman Das verlorene Paradies in einer sehr geschmackvoll gestalteten Ausgabe mit großzügigem Druck und Lesebändchen wieder auf Deutsch zugänglich machte.

© B. Busch

Der Schauplatz: Ostafrika um 1900
Ostafrika war lange vor der Kolonialisierung durch Engländer und Deutsche ein Schmelztiegel der Nationen, Kulturen, Sprachen und Religionen. Afrikaner, Araber und Inder lebten zwar nicht friedlich, aber in gewachsenen Strukturen nebeneinander. Diese keineswegs perfekte Welt kurz vor ihrer endgültigen Zerstörung steht in Das verlorene Paradies im Mittelpunkt, nicht die europäischen Kolonialmächte, die sich bereits überall im Land breitmachen.

Yusuf
Mitten in dieser Welt wächst Yusuf auf, Sohn armer Eltern aus dem Landesinneren, dessen Erwachsenwerden wir miterleben. Seine Kindheit endet abrupt in seinem zwölften Lebensjahr, als er einem reichen arabischen Kaufmann als Pfand zufällt. Er muss ihm in eine große Stadt am Meer folgen, dort in seinem Laden arbeiten und ihn später auf seinen Handelszügen zu den „Wilden“ begleiten. Der hübsche junge Mann erregt Aufsehen und weckt die Begierde von Männern und Frauen gleichermaßen. 

Erst allmählich begreift Yusuf, dass der Geschäftsmann nicht, wie er dachte, sein Onkel, sondern sein Seyyid, sein Herr, ist, und dass er, der immer von Albträumen gequält wird, nie die ersehnte Freiheit erlangen wird:

„Sie haben uns dazu erzogen, ängstlich und gehorsam zu sein, sie zu ehren, selbst wenn sie uns missbrauchen.“ (S. 303)

Das Einzige, was in dieser von Gewalt, Derbheit, Obszönität und Hierarchien geprägten Männerwelt paradiesisch erscheint, ist der Garten des Seyyid:

Das Haus, in dem wir wohnten, hatte einen wunderschönen Garten, mit einer hohen Mauer rundherum. Mit Palmen und Orangenbäumen und sogar Granatäpfeln und Wasserrinnen, mit einem Teich und duftenden Sträuchern. (S. 88/89)

Für Leserinnen und Leser mit Vorwissen
Mit Abdulrazak Gurnah hat das Nobelpreiskomitee einen 1948 im ostafrikanischen Sansibar geborenen Autor auszeichnet, der bereits 1967 als Bürgerkriegsflüchtling nach Großbritannien kam, dort bis zu seinem Ruhestand Professor für Anglistik und postkoloniale Literatur war, seine zehn Romane auf Englisch verfasste und sich heute für andere Flüchtlinge einsetzt.

Ohne Vorkenntnisse über die Region und die Zeit erschloss sich mir Gurnahs Erzählabsicht nur schwer, obwohl der Roman vordergründig nicht kompliziert zu lesen ist. Zum besseren Verständnis hätte ich unbedingt ein ausführliches Vorwort über die politische und gesellschaftliche Situation in Ostafrika um 1900 sowie die Koranbezüge des Textes und eine Landkarte gebraucht, um die vielen Orte, Episoden und die von gegenseitiger Geringschätzung geprägten Dialoge besser einordnen zu können. Trotz aller euphorischer Kritiken des Feuilletons gehört Das verlorene Paradies für mich deshalb zu den Romanen, die man durchaus lesen kann, um eine unbekannte Welt und einen empathisch gezeichneten Protagonisten kennenzulernen, die man jedoch nicht unbedingt lesen muss.

Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies. Aus dem Englischen von Inge Leipold. Penguin 2021
www.penguinrandomhouse.de

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